1. Station – irgendwo in Deutschland
Ich liebe es mir mithilfe meines Entsafters – natürlich aus Bio-Obst und -Gemüse, natürlich möglichst regional! – frischen Saft zuzubereiten. Er ist lecker, gibt mir Energie und das gute Gefühl meinen Körper mit vielen wichtigen Nährstoffen zu versorgen. Die Kombinationen der Obst-, Gemüse- sowie auch Kräuter- und Gewürzsorten sind schier endlos, sodass auch hier meine Lust, etwas zu erschaffen, befriedigt wird. Um bei der Arbeit konzentriert zu bleiben und die Morgenenergie nicht durch eine schwere Frühstücksmahlzeit in den Magen umzulenken, ernähre ich mich häufiger bis zum Mittag allein von solchen gesunden und nahrhaften Säften.
An einem dieser Morgen entschied ich mich für eine Kombination aus Rote Beete, Apfel, Karotte, Ingwer und Limette. Ich schnitt alles klein, warf es in die Vorrichtung des Entsafters und am unteren Ende schoss der Saft in den dafür vorgesehenen Behälter. Allein schon dieser Vorgang bereitete mir ein kindliches Vergnügen. Als ich den Behälter öffnete, war ich für einen kurzen Moment ganz eingenommen: Das satte, ins Bläuliche gehende, dunkle Rot erregte mich nicht auf sexuelle, aber doch auf sinnlich-lustvolle Weise. Das eben Gespürte wurde sogleich vom Denken kommentiert und eingeordnet: „Was für eine schöne Farbe!“, dachte ich. Dem alltäglichen Kommentar-Denken folgte an diesem Morgen jedoch ein tieferes Nachdenkenwollen: Ich fragte mich, was es an der Farbe war, das mich so berührte.
Ich füllte den Saft in ein Glas um, trank den ersten Schluck und dasselbe sinnliche Erleben passierte in meinem Mundraum – dieses Mal durch den Geschmack. Er war vollmundig, mit einer leichten Schärfe und süß wie Zuckerwasser, nur ohne den Nachgeschmack (oder Gedanken?) des Verarbeiteten und Raffinierten. Der Geschmack ist nicht nur eine sinnliche Reaktion auf das, was wir zu uns nehmen, sondern auch eine gedankliche: Wie uns etwas schmeckt, welche Gefühle ein Geschmack bei uns weckt, hängt auch immer davon ab, was wir mit diesem Essen oder jenem Getränk verbinden. Mit dem Saft verbinde ich Energie, Sonnenlicht, Frische, Nahrhaftigkeit, Lebendigkeit. Wieder fragte ich mich, was der Geschmack an sich hatte, das mich so begeisterte. Was die Farbe für mein Auge war, war er für meine Zunge. Beides erzeugte in mir ein ähnliches Gefühl. Dafür einen gemeinsamen Namen zu finden, fiel mir jedoch schwer.
2. Station – irgendwo in Schweden
Der norwegische Autor Karl Ove Knausgard würde sich beim Lesen dieser Zeilen, wenn er überhaupt über den ersten Satz hinausgekommen wäre, höchstwahrscheinlich angewidert abwenden und erst einmal eine Zigarette rauchen.
In seinem Buch „Lieben“, auf dem zwar Roman draufsteht, aber eine Biografie drin ist, was man, wie ich bald herausfinde, „Autofiktion“ nennt, beschreibt er an einer Stelle sehr ausführlich einen Kindergeburtstag einer Freundin seiner vierjährigen Tochter: Die Eltern, die Kinder, die Gespräche in der Küche, die Kinder, die die Gespräche unterbrechen. Mittendrin Karl Ove Knausgard himself, der sich spürbar unwohl fühlt.
Innerlich kopfschüttelnd betrachtet er die mit einem gesunden Dip servierten Karotten- und Gurkensticks und fragt sich, warum es nicht einfach Würstchen, Eis, Limonade, Lutscher und Schokopudding geben könne. Die Antwort, die er sich selbst und den Lesern gibt, ist schonungslos:
„Alle jungen Frauen tranken Wasser in derart rauen Mengen, dass es ihnen aus den Ohren herauskam, weil sie glaubten, es wäre ‚nahrhaft‘ und ‚wohltuend‘, aber die einzige Wirkung des Wassers bestand darin, die Zahl junger Inkontinenter im Land in die Höhe schießen zu lassen. Die Kinder aßen Vollkornnudeln und Vollkornbrot und alle möglichen seltsamen, groben Reissorten, die ihre Mägen nicht vollständig verdauen konnten, aber das spielte keine Rolle, denn es war ‚nahrhaft‘, es war ‚wohltuend‘, es war ‚gesund‘. Oh, sie verwechselten Essen mit Geist, sie dachten sie könnten sich zu besseren Menschen essen, ohne zu begreifen, dass essen eins ist, die Vorstellungen, die das Essen weckt, etwas anderes.“ (Karl Ove Knausgard, Lieben)
Als ich diesen Absatz las, musste ich lauthals und nickend lachen. Ein Lachen, das mir bald im Halse stecken blieb. Ein Lachen, das sich selbst aus dieser Beschreibung herausnahm, sich von ihr distanzierte, obwohl es doch genau dieselben Dinge tat. Auch ich trinke viel Wasser, gebe meinen Kindern Vollkornbrot und verwende heilsversprechend die Wörter „nahrhaft“, „wohltuend“ und „gesund“. Um noch einen drauf zu setzen, ernähre ich mich darüber hinaus vegan, mache Yoga, meditiere, trinke gerne Smoothies und frische Säfte. Ich gehöre also zu derselben Sorte Mensch, die Knausgard für komplett irre hält. Dennoch liebe ich seine Bücher und fühle mich auf eigenartige Weise eher auf seiner Seite als auf derjenigen der wassertrinkenden Vollkornmütter – obwohl ich nicht rauche und Rote-Beete Saft trinke. Was hat es damit auf sich? Was unterscheidet mich von ihnen? Oder ehrlicher gefragt: warum ist es mir so wichtig, nicht auf ihrer Seite zu sein? Und warum will ich mir andererseits trotzdem nicht von Karl Ove Knausgard meinen Saft vermiesen lassen?
3. Station – irgendwo zwischen Lifestyle und Lebensstil
Schon bekannte Größen wie Goethe, Nietzsche oder Thomas Mann haben um eine Lebensweise gerungen, die sie lebendiger und schöpferischer macht. Für Nietzsche war kein Gedanke es wert niedergeschrieben zu werden, der nicht zuvor in freier Natur und an frischer Luft erdacht worden war. So waren ihm die GeHdanken die wertvollsten. Und Goethe bevorzugte alles Obst vor jeder Torte und jedem süßen Gebäck. „Mein eigentliches Wohlleben ist in Früchten“, erfahren wir von ihm aus einem Brief an Charlotte von Stein. Auch er zelebriert, was Karl Ove Knausgard kritisiert: das Ideelle, die Vorstellung, die selbst in das hineinwirkt, was wir zu uns nehmen: „Möge die Idee des Reinen, die sich bis auf den Bissen erstreckt, den ich in den Mund nehme, immer lichter werden.“, schreibt er 1779 in sein Tagebuch (Wilhelm Bode, Goethes Lebenskunst).
Was bereitet mir also so ein Unbehagen an meinem Rote-Beete-Saft?
Der Soziologe Lars Distelhorst diagnostiziert da einen entscheidenden Unterschied zwischen Lebensweise oder Lebensstil einerseits und Lifestyle andererseits: „Wo sich der Stilvolle in seiner Selbstsorge nach innen wendet, richtet sich der Stylishe nach außen und äugt auf den Effekt, den er dort erzielt. An die Stelle des Lebensstils ist heute der Lifestyle getreten und vielleicht ist es dessen so stark nach außen gerichtete Dynamik, die verantwortlich für die Hysterie ist, die heute um das Wie des Lebens veranstaltet wird.“ (Lars Distelhorst, Lifestyle toujours)
Aha. Um das Ganze abzurunden, hätte ich demnach noch ein Selfie von mir und meinem stylischen Rote-Beete-Saft auf Instagram posten müssen. So hätte ich die Rote Beete und mich aus unserem profanen Dasein herausgerissen und uns Bedeutung verliehen. Die Rote Beete wäre zum Zeichen meiner durchgestylten Identität geworden. Ich hätte meinem Alltag den Touch des Hochglanzmagazinischen verliehen. Soso.
Der große Unterschied liegt also in der Frage, worum es mir geht – um eine Außen- oder eine Innenwirkung, um Schein oder Sein, um Form oder Inhalt, um Zeichen oder Wirklichkeit.
Ist dieser Unterschied noch auszumachen? Existiert er überhaupt noch? Wo genau ist der Punkt, an dem ich mein Leben nicht stilisiere? Wann wende ich mich meiner mittlerweile überstrapazierten Rote Beete im Sinne einer buddhistischen Achtsamkeitspraxis zu und wann gehört eben jene Achtsamkeit wieder zu einem Lifestyle? Wann ist es das Echte, Wahrhaftige, Lebendige, nach dem ich mich so sehr sehne? Wann ist es NICHT Lifestyle? Wie kann ich mit dem Lifestyle brechen?
Ich meine es doch ehrlich!
4. Station – irgendwo zwischen Intensität und Intention
Über etwas zu schreiben, was ich erlebt habe, kommt oft einem kindlichen „Noch mal, noch mal, noch mal!“ gleich. Ich will das Erlebte intensivieren. Im Schreiben hole ich es mir wieder und bewahre es in der Schrift auf. Oder manchmal auch so: Im Schreiben erst verstehe ich, was mir geschah und erlebe es noch einmal anders.
An einer Stelle dieser labyrinthischen Gedanken-Gänge hatte ich jedenfalls einen Namen für das Gefühl gefunden, das Farbe und Geschmack der Roten Beete in mir erzeugt hatten. Es war das Gefühl der Intensität.
Doch auch hier tappte ich, wie ich bald herausfand, in eine Falle.
Was ist es denn vor allem, was unseren Lifestyle formt? Es muss der eine bestimmte Entsafter sein, der auf meinem Bild, das ich NICHT gemacht und bei Instagram gepostet habe, im Hintergrund glänzt. Es sind die Superfoods im Smoothie, das yogischste Outfit beim Yoga, die richte App bei der Meditation. Für jeden Moment das passende Produkt. Für jede unserer individuellen Inseln, auf denen wir unserem Lifestyle frönen oder ihn verhöhnen, in jedem Fall aber nebeneinander unverbunden dahinplätschern, das richtige Equipment. Mit der entsprechenden Ausstattung erhoffen wir uns, aus dem Moment noch mehr herausholen zu können. Das Mehr-Haben verspricht ein Mehr-Sein. Es geht nicht nur um die Anerkennung im Außen, sondern auch um die Intensivierung im Innen. Lifestyle und Intensität sind die zwei Seiten unserer modernen Medaille.
In seinem äußerst lesenswerten Buch „Das intensive Leben. Eine moderne Obsession“ des Philosophen Tristan Garcia beschreibt er die eine Seite der Medaille folgendermaßen: Wenn uns schon die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod so gut wie verloren gegangen ist, wenn es kein Ziel mehr gibt, dass über das Leben hinausweist, dann sollten wir aus dem Leben selbst möglichst das Beste herausholen. Tun wir das nicht, haben wir nicht bei jeder Bio-Orange das Gefühl, auch noch den letzten Tropfen herausgepresst zu haben, fallen wir in einen Zustand der Leere und Abgründigkeit. Die Kehrseite der Intensität ist die Abstumpfung, die Apathie. Beide sind untrennbar miteinander verbunden und was wir mit unserem höheren, schnelleren, weiteren, einfach besseren Kick, nach dem wir gieren, bewirken, ist ein noch tieferer Abgrund, eine noch gähnendere Leere. Der Kampf lässt sich nicht gewinnen.
Auch mit dem Denken ist das so eine Sache. Betreibt man es zu intensiv, wird man depressiv. Der wohlberechtigte Zweifel kann einen auch manchmal zur Verzweiflung bringen. Gar nicht denken ist trotzdem nach wie vor – es sei denn für Meditationszwecke – niemals eine Lösung!
Halten wir uns doch mal – halb verzweifelt, aber dennoch optimistisch in der Grundeinstellung – an das Wort selbst. Lassen wir es doch mal seine Geschichte erzählen. Es ist, so viel wird schon verraten, eine Familiengeschichte:
Das Wort Intensität stammt von dem lateinischen Verb intendere ab, was unter anderem anspannen bedeutet. Es wurde im 18. Jahrhundert zunächst in die Physik eingeführt, um beschreiben zu können, wie stark oder schwach die Energie fließt. Es war die Zeit, in der die Erforschung der Elektrizität auf Hochtouren lief. Als elektrifizierend wurde bald auch die Wirkung eines Kusses empfunden, die, je nach Empfindungsfähigkeit und gegenseitiger Anziehungskraft der Küssenden, mehr oder weniger intensiv sein konnte. Der physikalische Energiefluss und dessen Intensität wurden schnell zu Metaphern des Gefühlspektrums. Auch heute noch sprechen wir davon, dass es zwischen zwei Menschen gefunkt hat oder uns ein bestimmtes Gefühl durchströmt. Intensität im alltäglichen Sprachgebrauch hat also etwas damit zu tun, wie ausgeprägt wir eine Kraft oder eine Spannung wahrnehmen.
Aus dem Mutterwort intendere im Sinne von anspannen hat sich auch noch ein anderer Sprössling entwickelt: die Intention, die wir heute als Absicht oder Vorhaben verstehen. Wenn wir eine bestimmte Absicht hegen, zum Beispiel am Morgen joggen zu gehen, dann richten wir unsere Energie, unsere Aufmerksamkeit, unseren Fokus danach aus. Mag die Verbindung von Intention und Anspannung nicht gleich offensichtlich sein, so ist damit doch eine Art gespannte, gerichtete Aufmerksamkeit gemeint, die sich auf etwas bezieht. Überspitzt könnte man sagen, dass wir ohne Intentionen im Grunde gar nichts zustande bringen. Eine Bündelung unserer Energie ist die Voraussetzung für jede Form von Erfolg. Mit unseren Intentionen – ob sie uns nun bewusst sind oder nicht – schaffen wir unsere Wirklichkeit. Oder andersherum: die Wirklichkeit ist das Echo unserer Intentionen.
Geschwisterpaare haben ja bekanntlich 50% dieselbe DNA. Man könnte sich also fragen, was Intention und Intensität gemeinsam haben. Tatsächlich offenbart sich bei näherer Betrachtung ein wunderbares Zusammenspiel: je nachdem, mit welcher Intention – im Sinne einer gespannten Aufmerksamkeit, einer inneren Ausrichtung – ich an eine Sache herangehe, erhöht oder mindert dies die Intensität meiner Wahrnehmung derselben.
Wenden wir diesen Zusammenhang einmal auf den Rote-Beete-Saft an. Es ging um die Intensität der Farbe und der des Geschmacks. Während wir bei der Farbintensität im Prinzip die Unterschiede in der Zusammensetzung des Lichts wahrnehmen, ist der Geschmack eine Empfindung, die im Zusammenspiel von Riechen und Schmecken entsteht. Wie etwas schmeckt, wie intensiv eine Farbe ist, ist nicht etwas objektiv Gegebenes, sondern es setzt ein Wesen voraus, dass es empfinden kann. In unserer Empfindung tritt etwas zu Tage, entsteht etwas. Indem wir empfinden und schmecken, sind wir schon unbewusst schöpferisch. Die Empfindung ist die Berührung mit der Welt – das Berühren und das Berührtsein. Durch die entsprechende Intention, sich berühren zu lassen, können wir quasi das, was ohnehin abläuft, bewusst wahrnehmen und dadurch intensiver. Die Tiefe der Empfindung bedarf also keines zusätzlichen Equipments, sondern schlicht und einfach die richtige Intention. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Intensität und Überspanntheit.
Um Intensität zu erfahren, könnte die Grundintention vielleicht folgendermaßen lauten:
Ich bin jetzt hier. Ich nehme wahr, was ist, öffne alle Sinneskanäle und lasse hinein, was da ist. Und immer wieder erinnere ich mich daran, es so zu tun.
Nachgang: Was ich im (Gedanken-)Gehen gelernt habe
„Gibt es darin auch irgendetwas Anwendbares, oder sind das nur so philosophische Überlegungen?“, fragt mich mein toller Hausarzt, als er mich im Untersuchungszimmer mit besagtem Buch von Tristan Garcia vorfindet. Gibt es zu der Theorie auch eine Praxis? Allein das Bewusstwerden kann ja schon zu einer anderen Praxis führen. Zu einer anderen Praxis der Wahrnehmung. Dazu ein Beispiel, wie es mir nach diesem Artikel erging:
Auf einer Autofahrt vom Lande in die Stadt wurde ich mir plötzlich meines inneren Autopiloten gewahr, der mich gedanklich bald hierhin zu dem Tag gestern bald dahin zu dem Tag morgen zerrte, um die Autofahrt, die ja in sich, wie wir glauben, keinen Wert hat, zu überbrücken. Um ihm etwas entgegenzusetzten überlegte ich mir eine klare Intention, ein klares Vorhaben für diesen Moment, der genauso zu meinem kostbaren Leben dazu gehört wie jeder andere auch. Ich beabsichtigte bewusst nach draußen zu schauen und wirklich zu sehen, was da ist. Mit einem Mal sah ich, dass die Pflanzen, an denen wir vorüberfuhren, unterschiedliche Formen und Farben hatten, dass die Bäume, Sträucher und Büsche sich ganz unterschiedlich in die Landschaft einfügten. Es war kein Wissen, denn das hatte ich über die Pflanzenvielfalt zumindest oberflächlich schon vorher besessen. Es war ein Sehen, als sähe ich zum ersten Mal. Ein Sehen einer Berührung gleich.