An einem Sonntag sind wir mit meinen Eltern und unseren Kindern im Wald spazieren. Es ist Anfang Herbst, regnerisch und in der Luft liegt dieser süßlich-modrige Geruch, den ich so sehr mag. Bei einem nahegelegenen Eiscafé, das um diese Jahreszeit geschlossen ist, findet mein vierjähriger Sohn Benjamin ein altes Tretauto und will unbedingt damit fahren. Doch die vielen Eicheln und Kastanien, mit denen der Waldweg schon bedeckt ist, machen es ihm unmöglich voranzukommen. Mit ganzer Kraft tritt er in die Pedalen. Es nützt nichts. Das Tretauto bewegt sich kaum ein paar Zentimeter. Benjamin wird wütend. Mit hochrotem Kopf tritt er auf dem Auto herum, seine Bewegungen werden hastiger und unkontrollierter. Er weint und schreit. Die Erschöpfung verwandelt seine Stimme in ein Krächzen. Wir versuchen ihn zu beruhigen, reden ihm gut zu – aber es hilft nicht.
„Er kommt da gerade nicht heraus.“, sage ich zu meiner Mutter und sie nickt. Wir kennen diese Momente. Wahrscheinlich nicken jetzt auch alle Leser, die Eltern sind. Nach einer Weile sagt meine Mutter: „Ja, früher hätte man gesagt, er ist bockig. Heute sagst du, er kommt da nicht heraus.“
Zwischen zwei Menschen, meiner Mutter und mir, zwei Generationen klafft da etwas auf: ein Wort steht einem anderen gegenüber und jedes behauptet das richtige für die Situation zu sein. Doch Worte kommen fast niemals allein. Wir benutzen sie oft, als wären sie es. Meistens aber haben sie ein bestimmtes Konzept im Schlepptau, eine Bedienungsanleitung zur Ausdeutung der Welt. Wir können unsere Wortwahl enorm verfeinern, wenn wir sie als gesellige Wesen akzeptieren.
Nennen wir unsere Kinder bockig, und wir tun dies tatsächlich nur mit unseren Kindern, schwingt ganz unverblümt und frei heraus das Wort „Bock“
mit. Es versteckt sich nicht einmal. Wir müssen nicht einmal groß herumgraben, um seine ursprüngliche Bedeutung aufzuspüren. Da steht er mitten im Wort vor uns: der Ziegen- oder der Schafsbock,
irgendein Bock aus dem Tierreich auf jeden Fall. Wenn der etwas nicht will, macht er seine Beine ganz steif – stocksteif, hart, unnachgiebig. Er zeigt damit seinen Widerstand, ein Wille, der
nicht gebrochen werden will. Doch anstatt dem Bock zu seinem starken Willen zu gratulieren und damit das Wort bockig als „eigenwillig“ oder „wesensfest“ positiv in die Sprache einzuführen, meinen
wir doch damit etwas durch und durch Negatives. Dies wiederum hängt mit unserer Erwartung sowohl an den Bock als auch an das Kind zusammen. Wir erwarten nämlich Gehorsam, wir erwarten butterweiche Beine, gestutzte Hörner und brave Kinder. Setzen wir Gehorsam als positive Erwartung, empfinden wir Ungehorsam in Form von
Bockigsein als negativ. Das Wort „bockig“ hat rein gar nichts mit dem Kind zu tun, sondern lediglich mit unserer eigenen Erwartung. Wenn das Kind bockig ist, beziehen wir sein Verhalten auf uns.
Du tust nicht, was ich will, ergo bist du bockig. Ein Kind so zu bezeichnen, ist im Grunde genommen höchst egoistisch. (Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch einmal eine eingehendere,
genderbewusste Analyse des Wortes "zickig".)
Wie ist es nun, wenn ich sage, dass mein Sohn „da gerade nicht herauskommt“? Was meine ich eigentlich damit? Ich komme nicht aus meinem Auto heraus, weil die Tür klemmt. Ich komme nicht aus meinem Haus heraus, weil es eingeschneit ist. Mein Sohn kommt nicht aus seinem Gefühl heraus. Und genauso wie wir das Auto und das Haus als Raum verstehen, aus dem man heraus- oder in das man hineinkommen kann, so sind es auch unsere Gefühle: Angst, Wut, Trauer, Freude. Mein Sohn ist gerade im Wutraum und die Tür klemmt, weil er eingeschneit ist. Da ändert es überhaupt nichts, wenn ich ihn zurechtweise, dass er doch bitte nicht so bockig sein soll. Im Gegenteil führt es nämlich dazu, dass ich mich von ihm abwende, weil er ungehorsam ist, weil sich sein Verhalten gegen mich richtet. „Bockig“ ist ein Trennwort, es kappt die Verbindung. Es ist ein Eigenschaftswort und schiebt meinem Sohn etwas unter – aus dem Verhalten kann sich ganz schnell der Charakter bilden, das Statische, die Form, ein Bild, das ich von meinem Sohn habe und das sich schnell verfestigt.
Verstehe ich Gefühle jedoch als Räume wie in einem realen Haus oder dem Innenraum eines Autos, dann weiß ich, dass er da auch wieder herauskommen kann. Das Verhalten bleibt dann das, was es ist: in Bewegung, dynamisch, veränderbar. Sehe ich einen Raum, kann ich auch eine Tür sehen, dann kann ich diejenige sein, die die Tür von außen öffnet (vielleicht klemmt sie nur von innen), oder ich kann selbst die Tür sein. Dann wende ich mich meinem Sohn zu, weil er Hilfe braucht. Auch meine Gefühle sind dann anders. Ich bin nicht genervt oder selbst wütend, weil er sich mir verweigert. Ich werde mitfühlend und hilfsbereit.
Ich nehme Benjamin also kraftvoll in meine Arme, was bei seinen starken Bewegungen gar nicht so einfach ist. Ich drücke ihn ganz fest an mich. Er sackt eng an meinem Körper zusammen, sein Schreien und Wild-um-sich-Schlagen wird allmählich zu einem Schluchzen. Er kommt zur Ruhe. In seinem Gesicht sehe ich Erleichterung. Er hat wieder Freiraum.