Erste Schöpfungsgeschichte
Mein Sohn Samuel kommt in die Küche, wo ich gerade einen Kartoffelauflauf vorbereite. Er möchte Zeit mit mir verbringen und ich sage ihm, dass ich mich gerade um den Auflauf kümmern muss. Aus dem Bedürfnis, in meiner Nähe zu sein und dem Umstand, dass ich gerade keine Zeit habe, entsteht bei meinem Sohn eine Leerstelle. Es kommt vor, dass er in solchen Momenten Widerstand empfindet und dadurch wütend oder traurig wird. Aber heute schafft er es, die Leerstelle ohne meine Hilfe zu füllen. Er bleibt bei mir in der Küche und geht zum Obstkorb, um sich daraus eine Grapefruit zu nehmen. Er legt die Frucht auf eine Tasse, die er zuvor auf der Arbeitsfläche entdeckt hatte. Es ist dieselbe Tasse, aus der sein Vater seinen allmorgendlichen Tee zu trinken und sie immer stehen zu lassen pflegt. Die Grapefruit passt nicht in die Tasse, aber das scheint auch nicht die Absicht meines Sohnes zu sein. „Guck mal, Mama!“, sagt er und sieht mit seinen großen blauen Sonnenscheinaugen zu mir herauf. Ich bin geneigt in elterlicher Standartmanier einfach „Schön!“ zu sagen und mich dann weiter um meinen Auflauf zu kümmern. Aber nehme ich meinen Sohn ernst, denke ich nicht einfach „Wie niedlich!“ und gehe darüber hinweg, macht mich seine Grapefruit-Tasse nachdenklich, weil sie sich über ihren Sinn ausschweigt. Eine Tasse ist dazu da, um etwas aus ihr zu trinken und nicht, um eine Grapefruit auf ihre Öffnung zu legen. Sowohl die Funktion der Tasse als auch die der Grapefruit sind für mich klar definiert, kategorisiert und damit ist es ausgeschlossen, dass sie in meinem Kopf zusammenkommen können; höchstens, wenn ich die Grapefruit auspresse und ihren Saft in die Tasse gieße. Mein Sohn, bei dem solche Definitionen und Kategorien noch nicht so fest verankert sind, der noch viel durchlässiger und flexibler ist als ich, schafft es in seinem Kopf sogar, dass weder die Tasse eine Tasse ist, noch die Grapefruit eine Grapefruit. „Das ist ein Fußballpokal.“, sagt er, als wisse er um meine Unfähigkeit.
Genau dieser Vorgang ist gemeint, wenn in den Wissenschaften zunehmend davon die Rede ist, dass die innovativsten Ideen an den Rändern der Disziplinen entstehen, weil man eben dort noch nicht oder nicht mehr in den fachinternen Theorien und Begrifflichkeiten feststeckt. Letztlich könnte man sagen, dass alle Erwachsenen irgendwie betriebsblind sind und der Betrieb ist in diesem Fall die von uns bewertete und durchwertete Welt, in der alles seinen Platz hat. Dabei sind wir aus neurologischer Sicht dazu gemacht, schöpferisch tätig zu sein – ja, mehr noch, unser Gehirn erschafft permanent und zwar genau in derselben Art und Weise, wie es Kinder tun.
Anhand von diversen Tests haben Neurowissenschaftler herausgefunden, dass dieselben Hirnareale, mit denen wir uns an die Vergangenheit erinnern, auch dafür verantwortlich sind, uns die Zukunft vorzustellen. Beiden Fällen liegen zwei Vorgänge zugrunde: erstens abzurufen, was da ist, und zweitens neu zusammensetzen (retrieve and recombine). In beiden Fällen findet Schöpfung statt. Ganz von selbst.
Alles, was mein Sohn gemacht hat, ist, zwei scheinbar unzusammenhängende Gegenstände miteinander zu verbinden und daraus etwas Neues entstehen zu lassen, weil er in der Lage ist, Ähnlichkeiten zu erkennen, die mir als fortgeschrittene Weltbürgerin verwehrt sind. Ich bin auch gerne schöpferisch tätig, auf unterschiedliche Art sind wir das doch alle, aber oft fehlt mir dabei die Leichtigkeit, die ich an meinen Kindern bewundere. Mehr noch, Leichtigkeit scheint die Schlüsselqualifikation des schöpferischen Menschen zu sein. Und sie zu erreichen fällt mir oft verdammt schwer. Nachdem ich mich stundenlang an einem Satz abgequält habe, sind es immer wieder die kleinen Zwischenräume, in denen sich dann plötzlich doch etwas auftut – die Zeiten zwischen zwei Terminen, Aufgaben, Tätigkeiten, in denen ich nicht wirklich etwas mit mir anzufangen weiß, weil es sich nicht lohnt, etwas Neues zu beginnen, weil es eigentlich kein Ziel gibt. Diese kleinen quasi unnützen Momente lassen angesichts der absoluten Zwecklosigkeit das Schöpferische in mir aufkommen. Die Schöpfung entsteht immer wieder aus dem Nichts. Die Frage ist nur, ob oder wie man diesen Zustand, dieses süße Nichts hervorrufen kann.
Vielleicht finde ich eine Antwort, bei dem Element, das gemeint war, als man ursprünglich vom Schöpfen sprach: dem Wasser. Die Worte schaffen und schöpfen existieren schon lange in gleicher Bedeutung nebeneinander her und sind irgendwie auseinander hervorgegangen. Die Spur verliert sich irgendwann. In gewisser Weise sind sie wie meine Zwillingssöhne: dieselbe DNA und ja viele Ähnlichkeiten, aber dennoch auch wieder ganz unterschiedlich. Man geht aber davon aus, dass schöpfen und schaffen dieselbe Mutter haben: Das Wort Schaff, was so viel wie Bottich, oder allgemeiner, Gefäß bedeutet, das speziell für Flüssigkeiten, vor allem für Wasser, gedacht war. Aus dem Schaff schöpfte man also das Wasser.
Lässt sich an diesem Vorgang etwas ablesen? Etwas Schlichtes, Leichtes vielleicht? Eine Methode des Schöpferisch-Schaffenden? Die Vorstellung, das etwas schon da ist, und ich es nur heraus- oder hervorzuholen brauche, wie das Wasser aus dem Schaff, gefällt mir ausnehmend gut. Ich führe meine Hände zusammen, forme sie zu einer Schale, tauche sie ins Wasser und schöpfe aus dem Vollen. Dem Schöpfen geht ein Eintauchen voraus, ein Eintauchen ins Spielerische wie bei meinem Sohn, ein Eintauchen ins Fließen des Wassers.
Am Anfang der Philosophie in Europa galt übrigens das Wasser als der eine Baustein des Universums, dem alles Leben zugrunde liegt. Der Naturphilosoph Thales soll gesagt haben, dass letztlich alles Wasser ist: „Wasser verdampft zu Luft (Dampf), Wasser wird zu Eis – Fische wachsen im Wasser und verschwinden dort, andere Dinge wie Salz oder Zucker lösen sich in Wasser auf. Wir wissen, dass das Wasser lebensnotwendig ist.“ (Skirbekk/Gilje: Geschichte der Philosophie Band 1) Wasser ist einerseits immer in derselben Menge auf der Erde vorhanden, andererseits stellt es aber auch die einzige chemische Verbindung in der Natur dar, die in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Sowohl wir Lebewesen als auch unser Lebensort die Erde sind im Prinzip Gefäße angefüllt zum größten Teil mit Wasser. Wasser ist der Ausdruck des gleichermaßen Veränderlichen und Unveränderlichen, dessen, was immer da ist, und dessen, was sich immer wieder in neuer Form zeigt, ein ewiges Fließen.
Was da in den Fluss kommt, zu fließen beginnt, ist jedoch nicht, wie ich lange geglaubt habe, die fertige Schöpfung, in meinem Fall der fertige Text. Es ist ein Anfang, eine Idee und dann noch eine und Pause und noch eine und dann geht gar nichts, manchmal tagelang und dann hier ein Gedanke und da ein Satzanfang und plötzlich Klarheit. Ich weiß, wo es lang geht, ich kenne die Richtung. Ich sammle die Zettel und Sprachmemos und die Word-Dokumente und setze zusammen, ordne, feile, stelle um.
Zweite Schöpfungsgeschichte
Jeden Morgen hole ich die Anziehsachen für meine vierjährigen Zwillinge aus dem Schrank. Erst die Unterwäsche, dann die Oberteile und Hosen – zum Schluss die Socken, die ich in der unteren Schublade des Kleiderschrankes aufbewahre. Meistens wuseln meine Kinder dabei schon um mich herum und sind ganz aufgeweckt und fröhlich. Eines Morgens öffnete mein Sohn Benjamin die Schublade neben der Sockenschublade, um nachzusehen, was da drin ist. Es war Herbstbeginn und den Sommer über war die Schublade ungeöffnet geblieben, weil sich in ihr die Handschuhe, Mützen und Schals für den Winter befanden. Die Schublade war kein Teil unseres sommerlichen Alltags und dadurch in Vergessenheit geraten. Plötzlich aber hatte sie, aus welchen Gründen auch immer, das Interesse von Benjamin geweckt. An dem darin Verborgenen entzündete sich für ihn ein Spiel: eifrig begann er alle Sachen aus der Schublade herauszuholen. Dieses gierige Vergnügen etwas ganz leerzumachen, alles auszupacken! Dann zog er sich nach und nach jeweils ein paar Handschuhe, eine Mütze und einen Schal an. Aufgeregt kam er ins Wohnzimmer gerannt, imitierte mit seiner Stimme einen Trommelwirbel, indem er die Arme ausgebreitet rief: „Tatatataa!“ Als wir ihm schmunzelnd, aber auch ein bisschen fragend anschauten, fügte er noch erklärend hinzu: „Ich habe mich als Weihnachtsmann verkleidet.“ Mein anderer Sohn Samuel, dem ich gerade beim Anziehen half, riss sich los, rannte ins Schlafzimmer und tat sogleich dasselbe. Nach einer Weile kam noch unser Rollkoffer hinzu und schon befanden sich die beiden auf einer Reise nach Lappland. An dieser Schublade, die immer da gewesen war, aber nun wieder neu entdeckt wurde, hatte sich ein lustiges Verkleidungsspiel entzündet.
Eine Stunde später, als meine Söhne dann im Kindergarten waren, setzte ich mich mit einer Tasse grünen Tee an meinen Schreibtisch und nahm meine zwei Bücher zur Hand: das eine, in dem ich zu Recherchezwecken las, und das andere, in dem ich meine Gedanken niederschrieb. Das eine zum Abrufen. Das andere zum Neuzusammensetzen. Ich begann zu lesen und an einem Wort, einem Satz, einer bestimmten Idee, die da in Schrift ausgebreitet vor mir lag, sich räkelte und sich mir entgegenstreckte, entzündete sich eine Gedanke, der sich wiederum ebenfalls auf dem Papier entfalten wollte. Ich begann zu schreiben und schon befand ich mich auf einer Reise im Land der Gedanken. An diesem Satz, der schon lange da in diesem Buch gewesen war, der nun aber von mir entdeckt wurde, hatte sich ein Spiel der Gedanken entzündet.
Die Schublade, das Buch, eine Begegnung, ein Geräusch – alles, was in unser Wahrnehmungsfeld kommt, kann uns inspirieren. Bewusst oder unbewusst – wir erschaffen in jedem Moment, wir sind schaffende Wesen. Wir erschaffen Spiele, Ideen, Stimmungen, gute oder schlechte Laune, Streitereien und Liebesgefühle, aber natürlich auch Kunstwerke, Gebäude usw. Wir können nicht nicht erschaffen. Wir sind immer am Werk.
Das Schöpferische ist oft hintergründig und passiert, wenn unser Denken beim Alltäglich-Tätigen nach einer Beschäftigung sucht. Vielleicht liegt der aktive Teil für uns eher darin, mehr Räume und Zeiten zu schaffen, in denen Schöpfung einfach ohne unser Zutun geschehen kann. Geschehen lassen und zusammensetzen. Abrufen und neu kombinieren. Wahrnehmen und verbinden. Und bewerten dabei am besten weglassen. Schwer oder leicht – ist doch egal. Panta rhei. Alles fließt.
P. s. Von dem Mutterwort Schaff kommt übrigens auch das Wort Scheffel. Wer sein Licht unter den Scheffel stellt, der wird nicht gesehen, der kann nicht leuchten. Dann lieber aus dem Scheffel schöpfen, sein Licht stattdessen auf einen Leuchter stellen und zeigen.