"Jetzt ist hier"[1]. Die Entdeckung des rechten Ortes, when you stop making sense.

Die Geschichte beginnt auf dem Fliesenboden im Flur unseres Hauses. In die Stille eines frühen Samstagmorgens bricht dort das flinke Tapsen nackter Kinderfüße ein. Um die Ecke herum geflitzt ist das kleine Menschlein nun auch zu sehen: schneeweiße Zähne und wasserblaue Augen. Alles lacht und strahlt im Gesicht meines Sohnes Samuel. Hinterhergetapst kommt sein Bruder Benjamin. Genauso strahlend, spitzbübisch obendrein.

 

An ihren kleinen Körpern hängt noch die Bettwärme und der kühle Morgen erfordert es, dass wir uns erst einmal gemeinsam auf das Sofa kuscheln. Benjamin sitzt links von mir und Samuel rechts. Genauso hatten sie sich am Ende auch in meinem Bauch eingerichtet. Da es zwei sind, hat mein Körper diese Anordnung gespeichert, und es wird in meiner Erinnerung immer ein Links und ein Rechts geben – wie zwei Teile eines Apfelgehäuses.

 

Kinder haben große Fähigkeiten zu kuscheln. Von einem Augenblick zum nächsten können sie die Spannung ihrer Muskulatur, die sie aufrecht hält, loslassen und sich passgenau einschmiegen. Passgenau heißt mit dem größtmöglichen Körperkontakt. Ich glaube das hängt mit ihrer anderen Fähigkeit zusammen, sich dem Moment hinzugeben. Wir Erwachsene sind während einer Umarmung in Gedanken schon dabei die Küche aufzuräumen oder das Frühstück vorzubereiten. Es sind diese Gedanken, die uns oft so unanschmiegsam machen.

 

Um unser allmorgendliches Sofa-Arrangement abzurunden, lege ich noch eine Decke über unsere Beine und beginne aus einem Buch vorzulesen. So sieht unser Moment aus, den es zu Beginn in fast jeder Geschichte gibt. Ein Moment von Alltag und Normalität, in dem alles (noch) in Ordnung ist. In einer der europäischen Urgeschichten, der Odyssee, sehnt sich Odysseus zurück nach Ithaka und wähnt seine Lieben „alle glücklich daheim“ (Homer, Odyssee). Gehen wir noch weitere 35.000 Jahre zurück, ungefähr zu dem Zeitpunkt, an dem man die Entstehung der Höhlenbilder von Lascaux vermutet. Die damaligen Jäger und Sammler mögen ihre Lieben in der Höhle gewähnt haben, geschützt vor den wilden Tieren, deren Geschichten an den Wänden erzählt werden. Und fühlen wir uns nicht letztlich erst so richtig geschützt durch den süßen Abstand zwischen der körperlichen Geborgenheit im eigenen Zuhause und den abenteuerlichen, gar schrecklichen Dingen, die sich in unseren Köpfen abspielen, während wir einer Geschichte lauschen? Ist der Regen nicht dann am schönsten, wenn wir ihm durch eine Fensterscheibe begegnen? Hat im schlechten Wetter vielleicht sogar eine jede Geschichte ihren Anfang genommen?

 

Während unser Odysseus noch im Bett schläft und wir gemütlich vorlesen, löst sich Samuel plötzlich aus unserem Mutter-Kind-Knäuel und richtet sich auf. „Mama“, sagt er aufgeregt, „wir wollten doch heute einen Kuchen backen.“ – „Stimmt“, erwidere ich, „dann lass uns gleich mal schauen, ob wir auch alle Zutaten haben.“ Das Vorlesebuch muss dem Backbuch weichen und beim Überfliegen des Rezeptes für einen Schokoladengugelhupf stellen wir fest, dass uns noch ganze drei Zutaten fehlen. „Dann müssen wir jetzt sofort zum Rewe fahren.“, wirft Benjamin ein. Als schon ein wenig geübtere Mutter lasse ich meine Erwartungen an einen gemütlichen Samstagmorgen los und bastle mir aus dem Mal-eben-schnell-zum-Rewe einen kleinen Ausflug: die Kinder auf dem Fahrrad und ich jogge nebenher. Wir alle bei Bewegung an der frischen Luft, auf dem schönen Weg entlang des Flusses, durch die Natur – das wird herrlich!

 

Wir ziehen uns an, verlassen also die Basis und begeben uns auf Nahrungssuche. „Ich bereite dann schon mal das Frühstück vor.“, höre ich unseren Odysseus, der gerade aus dem Schlafzimmer herausgeschlurft kommt.

 

Zwischen der jetzigen und der letzten Fahrradtour mit den Kindern liegen der Winter und ein Sprung vom vierten zum fünften Lebensjahr. Aus dem mühelosen Nebenher-Joggen wird wider Erwarten ein Sprint. Keuchend und schnaufend rufe ich immer wieder „Prima“, als meine Jungs mir zeigen, wie schnell sie mittlerweile fahren können. Der Wind treibt die Wolken an diesem Morgen so heftig an, dass das hindurchscheinende Sonnenlicht wie ein Flackern wirkt.

 

Auf der Hälfte des Weges fängt es an zu regnen. Das ist jene Stelle in der Geschichte, in der etwas Unerwartetes passiert. Es ist der Moment, als eine Abfolge von Ereignissen zu einer Geschichte wird, die es wert ist, sie zu erzählen. Was früher ein Gott oder das Schicksal bestimmte, erledigt heute, wie es Friedrich Dürrenmatt in seiner gleichnamigen Geschichte nennt, die Panne. Am Beginn des kleinen Waldstückes, das uns noch vom Rewe trennt, bleibt Samuel plötzlich wie eingefroren stehen. „Mir ist kalt!“, sagt er mit weinerlicher Stimme, die wesentlich höher tönt, als wenn er fröhlich klingt. So hoch wie Fingernägel über eine Tafel hinweg. Völlig aus der Puste spüre ich wie in meinen verschwitzten Körper allmählich die Kälte einzieht. Im Grunde geht es mir nicht anders als Samuel. Ich möchte mich auch auf den Boden schmeißen und alles doof finden, nur dass ich die Mutter bin und jetzt die Verantwortung habe. 

 

Ich versammle alle logisch nachvollziehbaren Argumente in meinem Kopf und breite sie vor Samuel aus: „Los komm, Schatz, wir sind bald da und dann wärmen wir uns erstmal beim Rewe auf. Sobald du dich wieder bewegst, wird dir warm. Wir haben es gleich geschafft.“ Nichts. Samuel weint weiter, macht sich stocksteif, ich keuche. Ich sehne mich nach der wärmenden Kuschelhöhle von heute Morgen. Ich will weiter, weg von hier. In meinem Kopf zeigt sich das lange Stück weg, das wir noch vor uns haben. Ich sehe unseren Odysseus, wie er daheim mit dem Frühstück auf uns wartet. Mein Urteil ist gefällt: das war eine Schnapsidee! Ohne dass es mir bewusst ist, wird Samuel in meinem Gefühl zu jemandem, der mich gerade daran hindert, hier wegzukommen. Zu meinem Keuchen und Schwitzen und Frösteln steigt die Wut in mir hoch. Ich merke, wie ich die Geduld verliere, mein Ton wird ruppiger, meine Sprache trennender: „Samuel“, schnaufe ich, „wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: entweder wir fahren jetzt weiter, uns wird warm und wir sind bald zu Hause, oder wir bleiben hier stehen und uns wird immer kälter.“ Nichts. Samuel weint. Ich wüte: „Dann sage mir doch bitte mal, was ich jetzt machen soll?“  

 

„Mama“, höre ich nun Benjamin hinter meinem Rücken rufen. Er war etwas abseits stehengeblieben und hatte der Szene bisher wortlos beigewohnt. „Nimm doch Samuel einfach mal in den Arm!“

 

Da war es das rechte Sprüchlein, die magischen, die heilenden, die alles lösenden Worte des Helfers, der in der Geschichte meistens dann erscheint, wenn die Lage vollkommen vertrackt und ausweglos ist. Der Helfer gibt einen Hinweis und lässt so die Heldin den rechten Ort entdecken. Doch so leicht, wie Kinder von einem Augenblick zum nächsten die Spannung ihrer Muskulatur loslassen und sich passgenau einschmiegen können, komme ich aus meiner stocksteifen Wut nicht heraus. Benjamins Worte haben mich weicher gemacht und ich weiß, dass er Recht hat und doch fällt es mir schwer, Samuel in den Arm zu nehmen. Ich tue es eher mechanisch als aus dem Herzen heraus.

 

Mitten im Regen knie ich mich auf seine Höhe, ziehe ihn etwas unwillig an mich heran und lege meine Arme um seinen kleinen Körper. Erst in der Umarmung, in der Wärme, die wir uns beide geben, in der Verbindung, die ich nun wieder zu Samuel spüre, ganz deutlich – erst dann löst sich die Wut auf. „Ich friere auch.“, sage ich. „Wo ist dir denn kalt?“, frage ich. „An den Händen“, schluchzt Samuel. „Da kenne ich einen guten Trick.“ Ich nehme die Ärmel seiner Jacke und ziehe sie über beide Hände, die vor Kälte ganz rot und steif geworden sind. Sie verschwinden darin wie in einer schützenden Höhle. Dann führe ich sie zu meinem Mund und beginne in die Ärmel hinein zu pusten. Samuel kichert, Benjamin lässt nun auch seine Hände in seinen Ärmeln verschwinden und im nächsten Moment stehen wir alle drei da mitten im Regen und pusten uns mit unserem Atem die Hände warm.

 

Benjamins Weisheit war die Weisheit des Körpers, der bei angenehmen Berührungen das Hormon Oxytocin ausschüttet. Das sogenannte Liebes-, Bindungs- oder auch Kuschelhormon wirkt dem Stresshormon Cortisol entgegen. „Es wirkt schmerzstillend, unterstützt das Immunsystem, das Wachstum. Es stellt Verbindung und Vertrauen her. Darüber hinaus hat es den psychologischen Effekt, dass wir uns mit uns selbst wohl fühlen, Selbstvertrauen, eine stabile Persönlichkeit entwickeln, gut mit Problemen umgehen können und uns nett zu unseren Mitmenschen verhalten.“ (Dr. Elisa E. Meyer, Berührungshunger) Deshalb verbringen unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, 20 bis 30 Prozent des Tages mit Kuscheleinheiten. Das entspricht auch unserem Bedarf. Doch das Kuscheln war in den letzten Generationen bis heute entweder eher schambesetzt oder als Mittel der Verweichlichung verpönt.

 

Als das Wort kuscheln um 1900 in seiner heutigen Bedeutung in die deutsche Sprache Eingang findet, hat es eine lange Reise hinter sich. Als ich sie nachlas erschien sie mir so ab- und umwegig, dass ich es als ein Wunder erachtete, dieses Wort heute überhaupt im Sinne von sich anschmiegen benutzen zu können. Es war mir unmöglich, dieser Reise einen Sinn zu entlocken, bis mein Sohn Benjamin mir in jener ganz unkuscheligen Situation sagte, ich solle seinen Bruder Samuel in den Arm nehmen. In diesem Moment zeigte er mir eine Weisheit, die vielleicht im Wort kuscheln enthalten ist.

 

Im etymologischen Wörterbuch finde ich das Wort erst einmal gar nicht. Stattdessen steht  dort schlichtweg kusch, was wiederum gar kein richtiges Wort ist, sondern ein sogenannter Scheuchlaut, den man ursprünglich bei Hunden anwendete, um ihnen zu befehlen, sich lautlos hinzulegen. Doch ich will von vorn erzählen:

 

Die Reise des Wortes kuscheln beginnt ganz in der Ferne bei den alten Römern und ihrem lateinischen Wort locus, das Ort, Platz oder Stelle bedeutet. Als meine Oma mich früher Lateinvokabeln abfragte, musste sie bei diesem Wort immer lauthals lachen, weil zu ihrer Zeit mit Lokus in der deutschen Umgangssprache noch das stille Örtchen, also die Toilette gemeint war. So entfernt ist das gar nicht, denke ich zwischendurch: ist denn nicht auch dieses Örtchen öfter mal ein schützender Rückzugsort, an dem wir kurz vom Trubel und Getöse und den ganzen Anforderungen des Alltags aufatmen können?

 

Das Nomen locus hat auch ein Verb locare im Sinne von stellen oder legen und zu diesem gesellt sich eine Vorsilbe, sodass wir bei collocare ankommen, was hinstellen, hinsetzen niederlegen bedeutet.

 

Die Auseinandersetzungen zwischen den Vorfahren der Franzosen, den Galliern, und den Römern sind aus der Comicserie „Asterix und Obelix“ bekannt. Irgendwo da, zwischen diesen Kämpfen, vielleicht auch etwas später, wird aus dem lateinischen collocare das altfranzösische couchier und schließlich das französische Wort se coucher in seiner Bedeutung von sich niederlegen.

 

Da der selbsternannte Sonnenkönig Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert die französische Kultur in ganz Europa etablieren wollte, um die Erweiterungen seines Egos auch über die Grenzen Frankreichs hinauszutreiben, wird aus dem französischen Jagdausruf Couche-toi! das deutsche Äquivalent Kusch dich! Als wollte Ludwig in seiner absolutistischen Manier nicht nur „L’État, c’est moi!“ ausrufen, sondern „Kuscht euch alle, L’Europe, c’est moi!“

 

Aus diesem Kusch-Laut, das nun vom alten Rom über Frankreich bis in die deutsche Sprache gewandert ist, bildet sich im 18. Jahrhundert zunächst das Verb kuschen heraus. Die devote Körperhaltung des Hundes, der sich vor seinem Herrchen niederlegt, ist hier in das mentale Verhalten des Menschen, der klein beigibt oder sich einer Situation fügt, übergegangen. Und eben aus jener Körperhaltung des Hundes, der sich niederlegt und  seine aufrechte Haltung loslässt, hat sich dann wohl das Wort kuscheln herausgebildet. Dem heute eher negativ besetzten Wort kuschen als einer Form von Resignation oder Selbstaufgabe steht das Wort kuscheln im Sinne des Loslassens, der Entspannung, der Hingabe gegenüber.

 

Ich bin bei meiner Recherche noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem ich für mich etwas mitnehme. Den rechten Ort, an dem sich mein suchender Geist niederlegen kann, sich einkuscheln, weil er fündig geworden ist, wie für den Romantiker Novalis Philosophieren nach Hause kommen bedeutete – diesen Ort habe ich noch nicht entdeckt. Ich suche weiter. Ich suche wie der Hund jagt, denn wie ich bald erfahre, ist diese Eigenart, sich während der Jagd niederzulegen, keinesfalls eine dem Hund anerzogene Verhaltensweise. Eher hat der Mensch sich da etwas zunutze gemacht, was dem Hund immer schon zu eigen war. Längst bevor der Menschen ihn domestizierte und er noch als Wolf in freier Wildbahn herumstreifte, gab es schon eine genaue Abfolge, in der der Hund jagte:  bis heute beginnt es mit einem  unausgerichteten Suchen, dass, sobald der Hund seine mögliche Beute wittert, sich ganz darauf ausrichtet. Diese innere Ausrichtung auf das Ziel geschieht in einem Moment des Innehaltens. Typischerweise bleibt der Hund stehen, wirkt wie eingefroren und hebt meistens eine seiner Vorderpfoten. Dieses instinktive Verhalten nennt man Vorstehen und im Laufe der Geschichte wurde es durch Züchtung und Training des Hundes durch den Menschen immer weiter verfeinert, auf dass ihm bei der Jagd geholfen sei.

 

Den Naturforscher Charles Darwin bringt man bekanntermaßen mit Affen und Galapagosinseln in Verbindung. Weniger bekannt ist, dass er nicht nur ein Liebhaber, sondern auch ein großer Beobachter von Hunden war und viele seiner bahnbrechenden Theorien sich darauf stützen. In seiner Abhandlung über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren begründet er das Vorstehen folgendermaßen:

 

„Viele fleischfressende Thiere, welche nach ihrer Beute hinkriechen und sich vorbereiten, plötzlich auf dieselbe loszubrechen oder zu springen, senken ihren Kopf und ducken sich zum Theil, um für das Einspringen vorbereitet zu sein; und diese Gewohnheit ist in einer übertriebenen Form bei unsern Vorstehe- und Hühnerhunden erblich geworden.“

 

Anhalten – Spüren – Sich innerlich Ausrichten: Bevor der Hund zum Finale ansetzt, ist es diese Haltung, die zwischen Erfolg und Misserfolg entscheidet.  

 

Nun ist ja die Jagd nicht gerade eine Aktivität, die wir mit dem liebevollen Umgang beim Kuscheln in Verbindung bringen. Seit Tiere auch als Lebewesen wahrgenommen werden, die geschützt werden sollten, ist die Jagd auf sie stark in Misskredit geraten. Seit es Rewe gibt, jagt die Nahrung eher uns als wir sie und auch die Jagd als Zeitvertreib, wie sie lange in aristokratischen Kreisen üblich war, ist heute weitgehend verpönt. Über das berufliche Jagen als Teil der Forstwirtschaft, die den Wildbestand reguliert, wird mittlerweile ebenso sehr kontrovers diskutiert. Dass Tiere jagen, ist wiederum ein Instinkt – man vergibt es ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.  

 

Und doch ist die Jagd als evolutionäres Programm tief ins uns eingegangen, hat sie doch unser Leben und Überleben auf dieser Erde länger als jede andere Tätigkeit bestimmt: „Die letzten zwei Jahrhunderte, in denen wir unsere Brötchen als Arbeiter und Angestellte verdienen mussten, und die zehn Jahrtausende davor, in denen wir uns als Bauern und Hirten durchgeschlagen haben, sind nur ein Wimpernschlag im Vergleich zu den Hunderttausenden von Jahren, in denen unsere Vorfahren jagten und sammelten. Die Vertreter des neuen Gebiets der Evolutionsbiologie nehmen an, dass unsere Gesellschaft und Psyche vor allem während dieser langen Phase vor der Erfindung der Landwirtschaft geprägt wurden. Bis heute sind unsere Gehirne daher auf ein Leben als Jäger und Sammler programmiert.“ (Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit)

 

Eines der Basisprogramme, auf die unser Gehirn als Resultat des Jahrtausende langen Jagens geprägt sein mag, ist die Suche. Was suchen wir nicht alles: Sinn, Glück, Halt, Liebe, Erfolg Lösungen und am häufigsten wahrscheinlich unseren Wohnungsschlüssel. Vor allem aber sucht unser Gehirn, spult sich in unserem Denken immer wieder ein Suchen ab, ja ist das Denken selbst eine permanente Suchbewegung. Unser Gehirn versucht aus allem, was es wahrnimmt, Sinn zu machen und Ordnung herzustellen, und am besten gelingt ihm das in Geschichten. Wenn etwas einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, wenn das eine sich aus dem anderen erklärt, alles Unbekannte in Bekanntes umgewandelt wurde, wenn es eine plausible Reihenfolge der Ereignisse gibt, ohne Sprünge, Lücken oder Leerstellen – dann wähnt sich unser Gehirn in Sicherheit und wir sind glücklich. Jede Geschichte entspringt einer Suche, alles, was uns passiert in eine geordnete Abfolge zu bringen, die uns beruhigt. Jede Suche solcher Art ist für den Altphilologen Walter Burkert in der „Abfolge praktisch-biologischer Notwendigkeiten der Nahrungssuche vorgezeichnet.“ (Walter Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion.) Von der Nahrungssuche auf der Jagd zur Sinnsuche in Geschichten können wir die Suche an sich als das Urprogramm unseres Handelns verstehen.

 

Darin liegt aber auch eine Problematik: wir sind immer in einer Geschichte drin. Ob wir nun Kommendes erwarten oder Vergangenes erinnern, gestern schon für Morgen planen – immer schon sind wir auf dem Weg zur nächsten Station unserer Geschichte. Dass unser Denken einem ewigen Suchen gleichkommt, ist das eine, wenn unser Leben aber zu einem permanenten Suchen wird, zu einem Jagen und Weiterhetzen, dann haben wir ein wichtiges Moment, das eine gute Geschichte ausmacht, verkannt:

 

Damit die Abfolge von Ereignissen, die unser Leben nun einmal ist, zu einer guten Geschichte wird, die wir erleben und erzählen wollen – dafür müssen wir in der Lage sein, aus der Geschichte auszusteigen. Denken ist linear, Denken unterliegt der Zeit, aber Leben geht weit darüber hinaus. Wenn wir unser Leben der Struktur unseres Denkens unterwerfen, nehmen wir ihm den Augenblick, der so schön ist, dass wir ihn darum bitten, zu verweilen.

 

Die Geschichte beginnt, immer dort, wo die Abfolge unterbrochen wird, wo es eine Pause gibt, einen Moment erhöhter Aufmerksamkeit, in der wir uns so lebendig fühlen, dass das Denken gar nicht hinterherkommt.

 

Darin liegt das Paradoxe von Sinn, Geschichte, Jagd, Suche: Wenn der Moment für sich allein steht und die Zeit still, wenn er erstarrt wie der Hund bei der Entdeckung des rechten Ortes, wenn es ein Innehalten gibt, bevor man weitergeht, erst dann können wir ihn wirklich spüren und im Nachhinein als sinnvoll einordnen. Erst dann kann er zum Ausgangs-, Mittel- oder Endpunkt einer Geschichte werden, die wir erzählen wollen. Dazu müssen wir innehalten können, zuhören, aufschauen, wahrnehmen, spüren.

 

Im besten Falle ist am Ende der Geschichte die Panne behoben und die Heldin gereift. Das Jagen hat ein Ende. In Homers Odyssee ist es die Göttin Athene, die, während der Irrfahrt ihm immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden, nun auch am Ende Frieden stiftet. „Halt“, ruft sie Odysseus in den letzten Zeilen des langen Epos zu. „Laß ab, noch weiter in wildem Kampfe zu ringen“. (Homer, Odyssee) Als ich da im Regen aufhöre darum zu kämpfen, dass wir weiterfahren, und einfach zulasse, verändert sich unsere Geschichte. Plötzlich sind Samuel, Benjamin und ich eine Einheit und bestehen die Weiterfahrt mit- und nicht gegeneinander. Beim Rewe gebe ich eine Runde Kakao und Rosinenbrötchen aus. „Das haben wir uns verdient.“, sagt Benjamin. Als wir später zu Hause ankommen erzählen Samuel und Benjamin unserem Odysseus bei einem zweiten Frühstück freudig von unserer Reise. 


Die Moral von der Geschichte? Frieden entsteht, wenn mann innehält und aufhört zu kämpfen und sich erstmal in den Arm nimmt. 



[1] Der Titel „Jetzt ist hier“ ist dem gleichnamigen Buchtitel der Jugendbuchautorin Tamara Bach entlehnt.