„Ohne Bindung kein Leben. Von der Zellteilung bis zur Kindererziehung können wir alle Vorgänge in der Biosphäre als Beziehungsvorgänge verstehen – und von ihnen lernen. Denn immer müssen zwei unterschiedliche Standpunkte so in Einklang gebracht werden, dass etwas ganz Neues entsteht, das alles Vorherige enthält und zugleich ganz anders definiert. Diese Verbindung zweier (oder vieler) unterschiedlicher Standpunkte in einem gemeinsamen Anliegen, das voller Widersprüche bleibt, ist die vielleicht allgemeinste Definition des Ökosystems. Sie ist zugleich die präzise Beschreibung einer liebenden Bindung.“
(Andreas Weber, Lebendigkeit)
Die Geschichte beginnt auf dem Fliesenboden im Flur unseres Hauses. In die Stille eines frühen Samstagmorgens bricht dort das flinke Tapsen nackter Kinderfüße ein. Um die Ecke herum geflitzt ist das kleine Menschlein nun auch zu sehen: schneeweiße Zähne und wasserblaue Augen. Alles lacht und strahlt im Gesicht meines Sohnes Samuel. Hinterhergetapst kommt sein Bruder Benjamin. Genauso strahlend, spitzbübisch obendrein.
Erste Schöpfungsgeschichte
Mein Sohn Samuel kommt in die Küche, wo ich gerade einen Kartoffelauflauf vorbereite. Er möchte Zeit mit mir verbringen und ich sage ihm, dass ich mich gerade um den Auflauf kümmern muss. Aus dem Bedürfnis, in meiner Nähe zu sein und dem Umstand, dass ich gerade keine Zeit habe, entsteht bei meinem Sohn eine Leerstelle. Es kommt vor, dass er in solchen Momenten Widerstand empfindet und dadurch wütend oder traurig wird. Aber heute schafft er es, die Leerstelle ohne meine Hilfe zu füllen. Er bleibt bei mir in der Küche und geht zum Obstkorb, um sich daraus eine Grapefruit zu nehmen. Er legt die Frucht auf eine Tasse, die er zuvor auf der Arbeitsfläche entdeckt hatte. Es ist dieselbe Tasse, aus der sein Vater seinen allmorgendlichen Tee zu trinken und sie immer stehen zu lassen pflegt. Die Grapefruit passt nicht in die Tasse, aber das scheint auch nicht die Absicht meines Sohnes zu sein. „Guck mal, Mama!“, sagt er und sieht mit seinen großen blauen Sonnenscheinaugen zu mir herauf. Ich bin geneigt in elterlicher Standartmanier einfach „Schön!“ zu sagen und mich dann weiter um meinen Auflauf zu kümmern.
An einem Sonntag sind wir mit meinen Eltern und unseren Kindern im Wald spazieren. Es ist Anfang Herbst, regnerisch und in der Luft liegt dieser süßlich-modrige Geruch, den ich so sehr mag. Bei einem nahegelegenen Eiscafé, das um diese Jahreszeit geschlossen ist, findet mein vierjähriger Sohn Benjamin ein altes Tretauto und will unbedingt damit fahren. Doch die vielen Eicheln und Kastanien, mit denen der Waldweg schon bedeckt ist, machen es ihm unmöglich voranzukommen. Mit ganzer Kraft tritt er in die Pedalen. Es nützt nichts. Das Tretauto bewegt sich kaum ein paar Zentimeter. Benjamin wird wütend. Mit hochrotem Kopf tritt er auf dem Auto herum, seine Bewegungen werden hastiger und unkontrollierter. Er weint und schreit.
...