Poesie statt Hierarchie. Ein Plädoyer für den fremden Blick

Für Irem

 

Eine neue Sprache zu lernen, bedeutet ja bekanntlich auch in eine neue Welt einzutauchen. Insofern wird das Erlernen von Fremdsprachen heutzutage allgemeinhin als Bereicherung empfunden. Dass aber die Neuzugänge in einem Sprachraum, sprich die Lerner einer Fremdsprache, ebenso bereichernd für die sogenannte Zielsprache sein können, davon ist seltener die Rede.

 

Die Sprachlerner bringen ihre eigene Welt mit, ihren ganz eigenen Blick. Und dieser Blick ist, zumindest, was die Zielsprache anbelangt, ein neuer, unverbrauchter. Noch hat nicht jedes Wort seinen ganz bestimmten Kontext, in dem es benutzt wird. Der Blick ist noch durchlässig für andere Zusammenhänge, die dem gewohnten Auge des Muttersprachlers verwehrt bleiben. Noch hält man sich an der äußeren Form der Wörter fest, als sei sie das Geländer, das vor dem Absturz in die Bodenlosigkeit der Bedeutungen schützt. 

 

Da ich Deutsch als Fremdsprache unterrichte, hat mir dieser fremde Blick auf meine eigene Muttersprache schon so manches Mal die Augen geöffnet:

 

Es ist der Beginn eines neuen Jahres. Eine wunderbare Gelegenheit, das Sprechen in der Vergangenheitsform zu üben und gleichzeitig zu erfahren, was die Teilnehmenden meines Deutschkurses in den Weihnachtsferien gemacht haben. Kathy, eine sehr offene Studentin aus Neuseeland beginnt zu erzählen, dass sie in Irland war und das Haus ihrer … ihrer – sie stockt. „Wie sagt man greatgrandmother?“, fragt sie schließlich. „Urgroßmutter“, antworte ich und schreibe das Wort an die Tafel. Ja, das Haus ihrer Urgroßmutter, die sie nicht kennengelernt hat, steht in Irland und sie hat es besucht. Ein Stück Lebensgeschichte in ein paar Sätzen. Wir kommen ins Gespräch, die anderen werden eingeklinkt, ich erfahre noch über weitere Reisen und unterschiedliche Neujahrsbräuche. Die fehlenden Worte werden mit Lachen kompensiert. Die Stimmung ist gut.

 

Irgendwann komme ich auf Kathys Ururgroßmutter zurück und nutze sie als Gelegenheit, etwas über die Vorsilbe Ur- zu erzählen: Ich sage, dass sie in Verbindung mit anderen Nomen so viel wie anfänglich, alt oder sehr lang her bedeutet. Ich verliere mich in Worten wie Urwald, Ureinwohner oder Uraufführung. Mittendrin meldet sich Irem aus der Türkei. Ein Mädchen mit einem wachen und gleichzeitig verträumten Blick. „Was bedeutet Laub?“, fragt sie und schaut dabei auf den Boden. Obwohl ich nicht verstehe, was das mit dem Thema zu tun hat, erkläre ich, herausgerissen aus meiner Begeisterung, dass es sich dabei um die Blätter eines Baumes handelt. Auf Irems Stirn entstehen irritierte Falten, an denen ich nun allmählich die Verbindung zu meinen hochtrabenden Ausführungen ablesen kann. Ur-Laub, Urlaub … natürlich! Da ist er wieder, der neue Blick auf die alte Sprache: das Ur- in dem Wort Urlaub war mir bis dahin aufgrund einer nicht auszumachenden Bedeutung im Sinne von alt oder anfänglich als Muttersprachlerin verborgen geblieben. Irem hatte es hervorgeholt. Sie hatte das Wort sicherlich weit häufiger gehört als Urwald oder Ureinwohner. Zumal es in Deutschland ja neben der Arbeit zu den wichtigsten Werten gehört. Zu ihren Stirnfalten gesellt sich nun ein Schulterzucken meinerseits. „Das muss ich nachschauen!“, gestehe ich und nehme ihre Frage mit in die Pause.

 

Im etymologischen Wörterbuch finde ich heraus, dass das Wort Urlaub sich aus dem Wort Erlaubnis entwickelt hat. Damit war die Erlaubnis, sich von der Arbeit zu entfernen, gemeint. Und wer erteilt diese Erlaubnis? Meine Enttäuschung könnte nicht größer sein. Ich muss an die Wahl des Unwortes im Jahre 2013 denken. Fiel die offizielle Entscheidung zwar auf das Wort Sozialtourismus, sah der Schriftsteller Ingo Schulze als damaliger Gast der Jury in dem Begriffspaar Arbeitgeber/Arbeitnehmer seine persönlichen Unworte des Jahres. Er begründete seine Wahl mit der tatsachenverdrehenden Beschönigung, die darin mitschwingt. Heiße es schon in der Bibel, dass geben seliger als nehmen ist, komme dem Arbeitnehmer, also dem, der die Arbeit leistet und sie damit eigentlich gibt, eine untergeordnete Rolle zu. Der Arbeitgeber erscheint als der heilsbringende Messias, während der Arbeitnehmer dankend entgegennimmt. Dass auch die Arbeitsstelle, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, wiederum erst durch zuvor geleistete Arbeit geschaffen wurde, bleibt dabei im Nebel.

 

Dass das Wort Urlaub ebenfalls aus diesem hierarchischen Verhältnis entstanden ist und die  ganze autoritär-bürokratische Verwaltungssprache des Genehmigens, Zusagens und Bestätigens in sich aufbewahrt, lässt mich wünschen, nicht nachgeschaut zu haben. Sofort sind meine bisherigen Assoziationen von Sonne, Strand und Palmen verschwunden. Der Arbeitgeber ist auch der Urlaubgeber und ich nehme dankend und ehrerbietig in Empfang.

 

Die Pause ist zu Ende. Noch bevor ich dazu komme, Irem und dem Rest des Kurses meine ernüchternde Erkenntnis mitzuteilen, schießt ihr Arm in die Höhe. „Ich habe eine Theorie!“, sagt sie mit leuchtenden Augen, „Das Ur-Laub ist das alte Laub, also das Laub, das im Herbst von den Bäumen fällt. Für den Baum ist das eine Erfrischung wie für uns der Urlaub.“ Zu ihren leuchtenden Augen gesellen sich meine leuchtenden Augen. Die Enttäuschung ist der Verzauberung gewichen.

 

Dem Zusammenhang zwischen den Bäumen im Herbst und unserem menschlichen Bedürfnis nach Erholung geht auch Deutschlands wohl bekanntester Förster Peter Wohlleben nach. In seinem mehr als berechtigten Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“ nimmt er uns mit auf eine spannende Reise ins Bauminnere:

 

„Im Spätsommer liegt eine eigenartige Stimmung über den Wäldern. Kronen haben ihr üppiges Grün gegen ein verwaschenes Gelbgrün eingetauscht. Es scheint, als würden mehr und mehr Bäume müde werden und erschöpft auf das Ende einer anstrengenden Saison warten. Ebenso wie bei uns nach einem arbeitsreichen Tag steht nun eine wohlverdiente Pause an.“ (Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume)

 

Mag es vielleicht keinen sprachgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Laub und Urlaub geben, so können wir doch vom Laubfall der Bäume Einiges über Erholung lernen. Ist es für uns heute im Urlaub vor allem wichtig, dass wir möglichst weit weg sind, möglichst viel erleben und zeitgleich möglichst viel darüber in den sozialen Medien posten, um uns dann die wirkliche Ruhe doch lieber im wohlverdienten Burnout zu holen, ist das für den Baum natürlich keine Option. Er bleibt, wo er ist. Stattdessen zieht er sich ganz in sich selbst zurück, lässt alle Aktivitäten ruhen, konzentriert sich auf das Wesentliche und lässt alles andere los. Würde er das nicht tun, würde er den Lichtsammler Chlorophyll nicht aus den Blättern ziehen, was die anderen herrlichen Herbstfarben zum Vorschein bringt, würde er sich letztlich nicht von den Blättern trennen und sie damit am Verdunsten von Wasser hindern, würde er austrocknen und sterben. Neben dieser Totalerneuerung macht der Baum auch noch eine Entschlackungskur, indem er alle Giftstoffe, die sich im Laufe des Sommers in den Blättern angelagert haben, gleich mit verabschiedet. Ohne Laubfall im Herbst kein Neuaustrieb im Frühjahr. Ohne Loslassen keine Neuschöpfung.

 

Irem macht mit ihrer sprachlichen Neuschöpfung etwas bewusst, was dem Wesen des Urlaubs doch viel näher sein müsste. Ich sage ihr, dass ich ihre Theorie bevorzuge. Sie will trotzdem wissen, woher das Wort Urlaub eigentlich kommt. Wir sind Menschen, wir wollen um jeden Preis wissen – auch wenn wir dadurch entzaubert werden.  Die Phantasie trifft den Nerv dennoch zuweilen eher als die Wirklichkeit es vermag. Sind wir denn nicht so manches Mal bei einem Herbstspaziergang im Wald am besten zur Ruhe gekommen?