“Wir sollen Maschinen sein, die funktionieren, und das mindestens 10 Stunden am Tag.”, schreibt die 15-jährige Yakamoz Karakurt in einem offenen Brief an den Hamburger Bildungssenator über ihren Schulalltag (https://www.zeit.de/2011/34/P-Schule). Das war im August 2011 und hat für einige Zeit ein bisschen Staub aufgewirbelt. Ein bisschen. Geändert hat es nichts. Yakamoz Karakurt vergleicht sich und ihre Mitschüler*innen mit Maschinen. Damit greift sie zu einer Metapher, die ihren Siegeszug im Zeitalter der Industrialisierung antrat und nicht nur die Arbeits-, sondern unsere komplette Lebenswelt veränderte. Es ist kein Zufall, dass die Maschine als Metapher auch immer wieder dort auftaucht, wo Bildungsdebatten geführt werden. Denn unser Bildungssystem ist ebenfalls zur Zeit der Industrialisierung entstanden. Um ihr zu nützen, sollte es Menschen hervorbringen, die vor allem eines konnten: funktionieren.
Nehmen wir den Vergleich von Yakamoz Karakurt einmal ganz ernst, hat das weitreichende Folgen: dann wird die Schule zur Fabrik, die Lehrenden zu Maschinenführer*innen und das Lernen erfolgt nach dem Input-Output-Schema. Schon haben wir ein gesamtes Narrativ, das entscheidend beeinflusst, wie wir unsere Umwelt, in diesem Fall die Schule, wahrnehmen und in ihr handeln. Das ist so, weil wir, wie es der Literaturwissenschafler Jonathan Gottschall ausdrückt, Storytelling animals sind und unser Gehirn, wie es die Neurwissenschaftler*innen bestätigen, für solche Metaphern und Narrative äußerst empfänglich ist. Das alles ist längst bekannt und zeigt einerseits, dass wir Menschen eben keine Maschinen sind. Andererseits macht es aber auch deutlich, dass wir unsere Weltsicht trotzdem nach so einer Metapher wie der Maschine ausrichten können und dies auch tun. Ob wir diesen Vorgang selbst gestalten oder uns davon manipulieren lassen, hängt im Wesentlichen davon ab, wie bewusst uns ist, dass überall da, wo Menschen zusammenkommen immer auch Storytelling am Werk ist. Das heißt, “dass narrative Strukturen – also Grundmuster, auf denen alle Geschichten aufbauen – hinter nahezu allen Prozessen stecken.” Dies haben Christine Erlach und Michael Müller in ihrem jüngst erschienenen Buch Narrative Organisationen in Bezug auf Unternehmen dargelegt Christine Erlach, Michael Müller: Narrative Organisationen). Dabei gehen sie davon aus, dass alle sozialen Systeme narrativ strukturiert sind. Wäre dies auch der Schule von Yakamoz Karakurt bewusst gewesen, dann wäre ihr Brief nicht im Sande verlaufen. Dann hätte man darin eine Geschichte erkannt, die nicht nur gehört werden will, sondern auch einen Wert für die Schule, ja für das gesamte Bildungssystem haben kann.
In Form von narrativen Interviews, Erzählworkshops und Learnings Histories – alles erprobte Methoden – hätte man auch für Yakamoz’ Mitschüler*innen Erzählräume schaffen können, in denen der Schatz an positiven und negativen Lernerlebnissen geborgen wäre. Man hätte die Lehrenden nach ihrem Welt- und Menschenbild befragt, nach positiven und negativen Lehrerfahrungen. All das zusammen genommen hätte gezeigt, wie die Schule in den Köpfen erzählt wird: der Status Quo als Auftakt zur Veränderung. So ist es doch auch in jeder Geschichte, oder?
Wenn man die Lernenden besser kennt, kann man auch Lernen anders auf sie ausrichten. Wissen wird dann nicht mehr als faktenbasierter Stoff verstanden, mit dem die Lernmaschinen gefüttert werden, sondern als narrativer Prozess, den die Lernenden selbst gestalten. Ein wichtiges Moment jeder funktionierenden Geschichte wird dann auch wieder Teil des Lernens: das Moment der Spannung. Statt Input-Output-Lernen begeben wir uns auf eine Held*innenreise – ein weiteres beliebtes Tool im Storytelling. Um an den Schatz heranzukommen entwickeln Held*innen eigene Strategien. Wie Mentor in der Odyssee werden Lehrende zu Mentor*innen, Vertrauenspersonen, die die Held*innen auf ihrer Reise begleiten. Aber auch das Wissen selbst können wir als Geschichte besser nachvollziehen, anstatt es vorgesetzt zu bekommen: einst hatte es einen lebendigen Kontext. Wie ist es in die Welt gekommen und welche Notwendigkeit gab es, dieses Wissen zu erlangen, welche zufällige Entdeckung, welcher unbändige Wille eines Einzelnen?
Wenn letztlich klar geworden ist, dass Lernende und Lehrende an einem narrativen Prozess mitwirken, ist es an der Zeit Zukunftsgeschichten zu erzählen, die von allen Beteiligten als sinnvoll empfunden werden. In welcher Schule wir lernen wollen geht einher mit der Frage, in welcher Welt wir leben wollen und welche Geschichten es braucht, um diese machbar zu beantworten.
Das alles hätte in Yakamoz‘ Klassenzimmer stattfinden können, oder gar in ihrer gesamten Schule. Es könnte auch jetzt stattfinden: in Klassenräumen, in Schulgebäuden, in Bildungseinrichtungen jeglicher Art. Bewusstes Storytelling verbunden mit Storylistening, Storyexperiencing und Story-Co-Creation kann überall und zu jeder Zeit beginnen. Dazu bedarf es nicht viel. Eine Person, die sagt “Erzähl doch mal!” kann den Stein ins Rollen bringen.
Yakamoz Karakurt hat erzählt, aber wir haben ihr nicht gut genug zugehört. In ihrem Brief versucht sie, sich von der Metapher der Maschine zu verabschieden: “Wir sollen Maschinen sein, die funktionieren, und das mindestens 10 Stunden am Tag. Aber funktionieren heißt nicht gleich lernen. Lernen bedeutet nämlich vor allem eins: Erfahrungen sammeln.” Auch das Wort Erfahrung hat, wie jedes Wort, eine Geschichte: sie erzählt von der Zeit des Mittelalters, als Ritter die Welt er-fuhren, um Abenteuer zu erleben. Wäre es nicht schön, wenn wir die Schule nicht als Fabrik, sondern als Ort von Abenteuern denken könnten? Und ist nicht das, was im Kern einer jeden Geschichte steckt, einer jeden Suche, eines jeden Lernens und Lebens, ein Abenteuer?